Gentechnik: Anwendung in Pharmazie und Medizin

Gentechnik: Anwendung in Pharmazie und Medizin
Gentechnik: Anwendung in Pharmazie und Medizin
 
In der Pharmazie und Medizin hat die Gentechnik schon heute erhebliche Veränderungen bewirkt. Bei der Entwicklung und Herstellung vieler Medikamente wie auch bei der Diagnostik und Therapie bestimmter Krankheiten hat die Gentechnik völlig neue Lösungen ermöglicht. Viele Medikamente sind überhaupt nur auf gentechnischem Wege herstellbar und die Ursachen vieler Krankheiten nur mithilfe der Gentechnik zu erforschen. In der Pharmazie und Medizin hat sich deshalb eine deutliche Wandlung vollzogen, die sich nicht zuletzt in der Entstehung eines neuen medizinischen Arbeitsgebiets — der Molekularmedizin — niedergeschlagen hat. War vor fünfundzwanzig Jahren eine Gendiagnostik am Menschen reine Science-Fiction, so ist dies heute in vielen Fällen schon Routine. In wenigen Jahren wird man alle Gene eines Menschen kennen und damit die Grundlage haben, die wirklichen Ursachen der genetisch bedingten Krankheiten zu erkennen. Die Folgen für die Diagnostik und die Therapie werden vermutlich viel tiefgreifender sein, als wir es uns zurzeit vorstellen können. Bei diesen Krankheiten könnte eine vollständige Genanalyse die Diagnose so präzise gestalten, dass die anschließende Therapie für jeden Patienten maßgeschneidert wird. Wenn dies auch zurzeit noch eine Zukunftsvision ist, so gibt es aber auch heute schon viele Anwendungen der Gentechnik in Pharmazie und Medizin.
 
 Medikamente aus gentechnisch veränderten Bakterien
 
Das wohl bekannteste Beispiel wie Gentechnik zur Herstellung eines Medikaments eingesetzt werden kann, ist das von gentechnisch veränderten Bakterien hergestellte Humaninsulin.
 
Insulin ist ein Peptidhormon, das im menschlichen Körper an der Regulation des Blutzuckerspiegels maßgeblich beteiligt ist. Bei Patienten mit Zuckerkrankheit (Diabetes) fehlt dieser Stoff oder ist in einer zu geringen Menge vorhanden. Zuckerkrankheit kann bis heute zwar nicht geheilt werden, die schweren Symptome und vor allem die Folgeschäden können aber weitgehend verhindert werden, indem die Patienten durch Injektionen fremdes Insulin zu sich nehmen. Bis zur Entwicklung der Gentechnologie wurde das notwendige Insulin — weltweit sind dies etwa zwei Tonnen — aus Bauchspeicheldrüsen von Schweinen oder Rindern gewonnen. Mit der Gentechnik wurde es nun möglich, menschliche Insulingene in Bakterien einzuschleusen und so Bakterien dazu zu bringen, humanidentisches Insulin zu produzieren. Obwohl das funktionsfähige Insulin aus zwei Eiweißketten besteht und die Bakterien die Verbindung der beiden Ketten nicht knüpfen können, ist es trotzdem schon 1975 gelungen, das menschliche Insulingen in Escherichia-coli-Bakterien einzuschleusen und die Bakterien zur Herstellung von humanidentischem Insulin zu benutzen. Anfangs wurden die beiden Insulinketten in zwei getrennten Bakterienstämmen produziert und anschließend chemisch verknüpft. Heute gibt es auch Bakterienstämme, die beide Ketten gleichzeitig produzieren. Schon 1982 wurde das erste aus Bakterien gewonnene humanidentische Insulin (rekombinantes Insulin) unter dem Handelsnamen Humulin von der Pharmafirma Eli Lilly auf dem amerikanischen Markt eingeführt und wenig später auch in Europa als Medikament zugelassen. Seit der gelungenen Produktion von Humaninsulin sind inzwischen mehr als 50 Medikamente hinzugekommen, die mithilfe bio- und gentechnischer Verfahren nicht nur in Bakterien, sondern auch in vielen anderen Organismen produziert werden. Zu ihnen gehören Interferone, Wachstumshormone, Blutgerinnungsfaktoren, Impfstoffe und so weiter. Mehr als 350 Therapeutika befindet sich zurzeit in der Entwicklung.
 
 Transgene Pflanzen zur Impfung und als Heilmittel
 
Pflanzen haben in der Medizin schon immer eine große Rolle als Heilmittel gespielt. Die Gentechnik eröffnet für den Einsatz von Pflanzen in der Medizin völlig neue Möglichkeiten. Gentechnisch veränderte Pflanzen können viele verschiedene menschliche Eiweißstoffe produzieren, die in der Medizin eingesetzt werden, wie beispielsweise menschliche Antikörper oder den menschlichen Blutfarbstoff Hämoglobin. Es gibt darüber hinaus aber noch weitere interessante Einsatzmöglichkeiten transgener Pflanzen in der Medizin als nur die Produktion menschlicher Eiweißstoffe. An dem Beispiel der Impfkartoffel oder der Impfbanane soll das besondere Potenzial der gentechnisch veränderten Pflanzen an der Schnittstelle zur Medizin verdeutlicht werden. Die Impfkartoffel (Impfbananen sind ebenfalls in Vorbereitung) ist gentechnisch so verändert, dass das Essen dieser Kartoffel wie eine Schluckimpfung wirkt, wie sie beispielsweise gegen Kinderlähmung schon seit Jahrzehnten durchgeführt wird.
 
Wie wird diese Wirkung erreicht? Für diesen Zweck werden die Gene oder ein Gen des Krankheitserregers in die Chromosomen der Kartoffelpflanze so eingebaut, dass das entsprechende Protein in der Kartoffelknolle in hoher Konzentration von der Pflanze erzeugt wird. In einem Versuch mit Mäusen, die man mit solchen Kartoffeln gefüttert hat, wurde gezeigt, dass die Tiere Antikörper (körpereigene Abwehrstoffe im Blut) gegen die Krankheitserreger bilden. Der typische Effekt einer Schluckimpfung ist bei den Mäusen aufgetreten. Die Verwendung von solchen transgenen Pflanzen als Impfstoffe hätte viele Vorteile. Der wichtigste Vorteil wären die äußerst geringen Produktionskosten, die vermutlich erheblich niedriger sein dürften als die heutigen Preise für konventionell hergestellte Impfstoffe. Vor allem in Ländern der Dritten Welt, in denen oft das notwendige Geld für umfassende Massenimpfungen fehlt, wäre der Einsatz von Impfstoffpflanzen eine — finanziell gesehen vielleicht sogar die einzige — Möglichkeit, manche Seuchen wirksam zu bekämpfen. Ein zweiter wichtiger Vorteil wäre, dass die Impfkartoffel oder die Impfbanane unter Umständen ein sichererer Impfstoff wäre, als ein konventionell erzeugter. Viele Impfstoffe enthalten abgetötete oder geschwächte Krankheitserreger. Dies birgt die Gefahr, dass Impfstoffe manchmal mit weiteren Krankheitserregern kontaminiert (verunreinigt) sind, die dann unter Umständen eine Krankheit auslösen. Solche Probleme können natürlich mit einer Impfkartoffel nicht auftreten, da ja nur ein Gen oder wenige Gene des zu bekämpfenden Krankheitserregers in der Kartoffel enthalten sind.
 
 Molekulare Diagnostik
 
Infektionskrankheiten werden durch Viren, Bakterien, Pilze oder sonstige Erreger erzeugt, die ein eigenes Genom besitzen — eine Ausnahme sind die Prionen. Jeder Krankheitskeim kann anhand seiner Gene beziehungsweise der Basensequenz seines Genoms völlig eindeutig identifiziert werden. Mithilfe der verfügbaren Methoden wie der Polymerasekettenreaktion, der DNA-Sequenzierung, der Southern- oder DNA-Chip-Hybridisierung ist es heute in vielen Fällen innerhalb weniger Stunden möglich, einen Krankheitserreger eindeutig zu diagnostizieren. Vor allem die Virus- und Bakteriendiagnose wird mithilfe molekularer Verfahren erheblich beschleunigt und auch präziser. Voraussetzung für die Anwendung der Molekulardiagnostik ist allerdings, dass die Basensequenz des Genoms eines Krankheitserregers oder Teile davon bekannt sind. Mithilfe der Polymerasekettenreaktion und speziellen, für den pathogenen Organismus entwickelten Primern lassen sich Krankheitserreger, auch wenn sie nur in wenigen Exemplaren vorhanden sind, nachweisen. In Zukunft werden verstärkt DNA-Chips zum Einsatz kommen. Auf den DNA-Chips können Zehntausende, in speziellen Fällen sogar Hunderttausende verschiedener DNA-Sonden für unterschiedliche Erreger untergebracht werden und die Auswertung erfolgt computergesteuert innerhalb weniger Stunden. DNA-Chips sind zurzeit noch sehr teuer, sodass sie in der Routinediagnostik bisher noch nicht in größerem Maße eingesetzt werden. Dies wird sich aber in nächster Zukunft sicherlich ändern, vor allem, wenn sich noch mehr Firmen als bisher mit der DNA-Chip-Herstellung beschäftigen.
 
 
So wie jeder Mensch ein individuelles Aussehen — eineiige Zwillinge einmal ausgenommen — und einen einzigartigen Charakter hat, so ist das Genom eines jeden Menschen einmalig. Die genetischen Unterschiede zwischen den Menschen sind allerdings häufig sehr klein, vor allem wenn es sich um wichtige Gene handelt. Es gibt aber einige Abschnitte in den menschlichen Chromosomen, die bei jedem Menschen verschieden sind. Diese Regionen enthalten Minisatelliten-DNAs, die aus kurzen, wenige Basen umfassenden Sequenzwiederholungen bestehen. Diese auch Tandem-Repeats (englisch »repeat«: »Wiederholung«) genannten Sequenzen variieren extrem stark in ihrer Zahl pro Abschnitt und Individuum, sodass keine zwei Menschen auf der Welt dasselbe Minisatelliten-Muster besitzen — ausgenommen eineiige Zwillinge. Der Nachweis von Minisatelliten kann entweder über eine Southern-Analyse oder über eine Polymerasekettenreaktion erfolgen. Bei der Southern-Analyse können mehrere Minisatellitenabschnitte gleichzeitig nachgewiesen werden, was die Methode zuverlässiger macht. Sowohl bei der Southern-Analyse als auch bei der Polymerasekettenreaktion ist das Ergebnis ein Bandenmuster, das spezifisch für das Individuum ist.
 
Weil das Minisatelliten-Bandenmuster so individuell wie ein Fingerabdruck ist, wird dieses Verfahren auch DNA-Fingerabdruck genannt.
 
Dieses Bandenmuster wird darüber hinaus weitgehend stabil nach der Mendel'schen Regel vererbt und kann somit für Verwandtschaftsanalysen eingesetzt werden. Das Verfahren lässt sich sogar posthum anwenden. So ist zum Beispiel mithilfe dieses Verfahrens nachgewiesen worden, dass der frühere Präsident der USA, Thomas Jefferson, mindestens ein Kind mit seiner Sklavin gehabt hat.
 
Eine besonders große Bedeutung hat das Verfahren aber in der Kriminalistik und Rechtsmedizin. Mit dem DNA-Fingerabdruck ist es prinzipiell möglich, mit DNA aus kleinsten Gewebsproben wie beispielsweise Hautresten oder Haaren mit Haarwurzeln noch einen Täternachweis zu führen.
 
 Krebs als genetisches Problem
 
Tumorerkrankungen sind nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen, obwohl in den letzten Jahrzehnten in der Therapie mancher Krebserkrankungen erhebliche Fortschritte erzielt worden sind. Krebs- oder Tumorzellen entstehen dadurch, dass das genetische Programm eines kontrollierten, gebremsten Zellwachstums durch Genveränderungen außer Kraft gesetzt wird. Die Krebszellen beginnen zu wachsen und sich schneller als gesunde Zellen zu vermehren. Sie verlieren dabei die Fähigkeit, ihre Aufgaben für den Organismus zu erfüllen. Im schlimmsten Fall verlieren diese Zellen völlig ihren Charakter (ihren Differenzierungsstatus), werden sozusagen wieder zu embryonalen Zellen ohne Entwicklungsprogramm und beginnen sogar, im Körper des Patienten herumzuwandern. Auf diese Weise können Krebszellen Metastasen (Tochtergeschwülste, Ableger) bilden und so einen Organismus völlig zerstören.
 
Es ist heutzutage keine Frage mehr, dass die Entstehung von Tumoren und Krebs sehr stark durch verschiedene Gene beeinflusst wird, ja zum Teil sogar durch Veränderungen (Mutationen) an einzelnen Genen ausgelöst wird. In jedem Fall sind bei einer akuten Krebserkrankung fehlgesteuerte oder defekte Gene ursächlich beteiligt, was eine wirkliche Heilung der erkrankten Zellen so gut wie unmöglich macht. Alle Therapiebemühungen sind deshalb zurzeit darauf ausgerichtet, die erkrankten Zellen oder Gewebe abzutöten (Strahlen- oder Chemotherapie) oder sie aus dem Körper zu entfernen (Operation).
 
Obwohl man für die meisten Tumorerkrankungen die verantwortlichen Gene noch nicht genau kennt, gibt es eine ganze Reihe von gut untersuchten Beispielen, bei denen schon ein Defekt in einem einzigen Gen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass ein Tumor entsteht. Diese Krankheiten sind vor allem dadurch erkannt worden, dass die Neigung zur Krebserkrankung vererbt wird. Dazu gehören zum Beispiel das Retinoblastom (Augentumor), bestimmte Formen von Darmkrebs (die familiäre Polyposis) oder manche Arten von Brustkrebs. Ein typisches Beispiel, wie defekte Gene Krebs erzeugen, ist das Retinoblastom. Bei diesem Tumor sind die genetischen Ursachen sehr gut untersucht.
 
Verantwortlich für die Entstehung des Retinoblastoms, das sich in der Netzhaut des Auges entwickelt, ist das RB-Gen (Retinoblastoma-Gen). Es handelt sich bei dem RB-Gen um ein Antitumorgen oder auch Tumorsuppressorgen. Solche Tumorsuppressorgene verhindern, dass Zellen sich schneller vermehren, als es ihnen nach dem Entwicklungsprogramm des Organismus zusteht. Normalerweise hat jeder Mensch zwei Kopien des RB-Tumorsuppressorgens und ist damit gut gegen eine Tumorentstehung geschützt. Manchmal kommt es zu einer Zerstörung einer Kopie des RB-Gens durch Mutation, aber die zweite intakte Kopie reicht aus, um ein Tumorwachstum zu unterdrücken. Gefährlicher wird es dann, wenn Eltern das defekte RB-Gen vererben und das entsprechende Kind von Geburt an nur noch eine intakte Kopie besitzt. Kommt es dann zu einer Mutation der einzigen funktionsfähigen Kopie, so fehlt die Wachstumsbremse völlig und der Tumor kann sich entwickeln. Obwohl Mutationen glücklicherweise recht selten sind, kommt es doch bei Menschen mit nur einer intakten Kopie des RB-Gens häufig zum Ausbruch der Tumorerkrankung. Besonders schlimm sind Kinder betroffen, die von beiden Eltern jeweils nur die defekte Kopie des RB-Gens geerbt haben. Solche Patienten entwickeln nahezu alle früher oder später Tumoren. Glücklicherweise ist die Umwandlung von normalen Zellen zu Krebszellen bei dieser Krebsart nur in wenigen spezialisierten Geweben wie der Retina (Netzhaut) des Auges oder in Knochengewebe möglich. Dadurch bestehen bei einer sorgfältigen, regelmäßigen Überwachung der gefährdeten Patienten sehr gute Chancen, einen Tumor frühzeitig zu erkennen und zu entfernen. Es ist deshalb in solchen Fällen besonders wichtig, das genetische Risiko frühzeitig zu erkennen. Auch hierfür spielen die gentechnischen Analyseverfahren eine große Rolle.
 
Das Beispiel des Retinoblastoms zeigt, wie Gene unmittelbar an der Krebsentstehung beteiligt sind. Mit der fortschreitenden molekularen Analyse des menschlichen Genoms und der menschlichen Krankheiten werden mehr und mehr Gene beziehungsweise Gendefekte entdeckt werden, die einzeln oder im Zusammenspiel die Ursache für Krebserkrankungen sind. Für die Diagnose, aber auch für die Prognose und die Therapie werden molekulargenetische Verfahren in Zukunft eine immer größere Bedeutung erlangen.
 
 Gendefekte beim Menschen
 
Seit vielen Jahrzehnten kennen wir Krankheiten, die nach einfachen Regeln von Eltern auf die Kinder vererbt werden. Ein klassisches Beispiel ist die Bluterkrankheit, die in vielen europäischen Fürstenhäusern verbreitet war.
 
Diese Krankheit wird durch ein defektes Gen ausgelöst, das normalerweise für die Synthese eines Blutgerinnungsstoffes, des Faktors VIII, verantwortlich ist. Die Folge ist, dass Bluterkranke auch bei kleinen Verletzungen schon verbluten können, wenn keine Behandlung erfolgt. Diese Krankheit prägt sich besonders häufig bei Männern aus, weil das entsprechende Gen auf dem X-Chromosom, einem Geschlechtschromosom liegt. Das Besondere an dem X-Chromosom ist, dass Frauen zwei X-Chromosomen, Männer aber nur ein X-Chromosom zusammen mit einem Y-Chromosom besitzen. Damit haben Männer nur eine Kopie des Blutergens. Ist diese eine Kopie defekt, so prägt sich die Krankheit aus. Frauen besitzen dagegen zwei X-Chromosomen, sodass eine defekte Genkopie auf einem X-Chromosom fast immer durch die zweite, meistens intakte Genkopie auf dem zweiten X-Chromosom kompensiert wird. Frauen übertragen zwar das defekte Gen, erkranken aber nicht daran.
 
Natürlich können Gene auf allen Chromosomen mutieren. Ein Beispiel dafür ist die Sichelzellenanämie, die vor allem in Zentralafrika weit verbreitet ist. Bei der Sichelzellenanämie ist eine einzige Base in der DNA des Gens für die β-Kette des Hämoglobins verändert. Diese winzige Veränderung hat aber dramatische Folgen, die unter anderem zu einer Verkrüppelung der roten Blutkörperchen (sichelförmig — Sichelzellenanämie) und zu einer stark verminderten Sauerstofftransportfunktion des Blutes führen.
 
Alle Erbkrankheiten — etwa 4000 sind zurzeit bekannt — haben eines gemeinsam: Sie werden durch Veränderungen in der DNA eines Menschen verursacht. Das können sehr kleine Veränderungen wie bei der Sichelzellenanämie der Austausch einer einzigen Base gegen eine andere sein, oder es können große Abschnitte der DNA fehlen, chromosomal verlagert sein oder auch mehrfach vorhanden sein.
 
Die Gentechnologie hat in den vergangenen 25 Jahren hervorragende Werkzeuge entwickelt, mit denen die Struktur der DNA und damit auch die Ursache von Erbkrankheiten untersucht werden können. Ist die molekulare Ursache einmal erkannt, so kann mithilfe der gentechnischen Analyseverfahren festgestellt werden, ob ein Patient die Krankheit in sich trägt oder nicht.
 
Der große Vorteil der molekularen Diagnostik von Erbkrankheiten liegt zum einen in dem meist eindeutigen Ergebnis und zum anderen in der Möglichkeit, die krank machenden Gene auch dann festzustellen, wenn die Krankheit nicht oder noch nicht ausgebrochen ist. Die molekulare Diagnose kann auch pränatal (vor der Geburt) durchgeführt werden. In Ausnahmefällen, in denen eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt wird, kann die molekulargenetische Untersuchung sogar am Präimplantationsembryo durchgeführt werden, also bevor der im Reagenzglas befruchtete Embryo in die Gebärmutter der Frau eingesetzt wird. Dazu wird dem ganz frühen Embryo, der sich noch im Reagenzglas befindet, im Vier- oder Achtzellstadium eine Zelle entnommen, und daraus wird die DNA extrahiert.
 
Die DNA aus dieser Zelle reicht aus, um eine molekulargenetische Analyse durchzuführen. Bei dieser Analyse lässt sich auch das Geschlecht des Embryo feststellen, was für die Risikobeurteilung von geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten, wie beispielsweise Muskelschwund oder Bluterkrankheit, von großer Bedeutung ist. Die Präimplantationsdiagnostik ist in der Bundesrepublik Deutschland problematisch, weil das Embryonenschutzgesetz jede Manipulation an menschlichen Embryonen verbietet. Die Diskussion ist allerdings im Gange und es wäre zu wünschen, dass ein breiter gesellschaftlicher Konsens bei dieser umstrittenen Frage erreicht werden könnte.
 
 
Durch fehlerhafte oder falsch regulierte Gene hervorgerufene Krankheiten können bisher nicht wirklich geheilt werden. Alle Behandlungsmethoden zielen darauf ab, die Krankheitssymptome zu mildern. Die eigentliche Ursache jedoch, nämlich das defekte Gen, wird dadurch nicht beseitigt.
 
Hier setzt die Gentherapie an. Ihr Ziel ist es, bei genbedingten Krankheiten den Gendefekt auf der Ebene der Erbsubstanz zu reparieren oder zumindest zu kompensieren. Bei der Gentherapie wird zwischen somatischer Gentherapie und Keimbahngentherapie unterschieden. Bei der somatischen Gentherapie werden ausschließlich Somazellen gentechnisch verändert. Das sind alle Zellen eines Körpers, die sich nicht zu Keimzellen entwickeln können. Somazellen sterben mit dem Tod des Individuums (mögliche Ausnahme: Klone).
 
Veränderungen in den Somazellen sind nur für das individuelle Leben des Patienten von Bedeutung, während bei der Keimbahngentherapie die Gene in den Keimzellen verändert werden und somit alle nachfolgenden Generationen von dieser Genveränderung betroffen sind.
 
Somatische Gentherapie
 
Die somatische Gentherapie hat zum Ziel, Körperzellen eines Patienten gentechnisch so zu verändern, dass die Krankheit des Patienten geheilt oder wenigstens gelindert wird.
 
Bei einer typischen somatischen Gentherapie werden einem Patienten mit einem Gendefekt Körperzellen entnommen, die dann für eine Weile in Zellkultur weitergezüchtet werden. Während der Züchtung/Haltung der Zellen in der Zellkultur werden die gentechnischen Veränderungen an den Zellen durchgeführt, die die Krankheit heilen sollen. Nachdem die gentechnische Veränderung erfolgt ist, werden die reparierten Zellen noch eine Weile in der Zellkultur weitergezüchtet und vermehrt und schließlich in den Patienten zurücktransplantiert. Da die Zellen von demselben Patienten stammen, ist bei der Reimplantation der Zellen nicht mit Abstoßungsreaktionen zu rechnen.
 
Für welche Krankheiten erscheint eine somatische Gentherapie erfolgreich? Die Krankheiten, für die eine Gentherapie möglicherweise geeignet ist, sind solche, bei denen durch den Ausfall eines einzigen Gens die Krankheit ausgelöst wird. Dazu gehören unter anderem die cystische Fibrose, die Hunter'sche Glossitis, das Fanconi-Syndrom und die Gaucher'sche Krankheit.
 
Ein typisches Beispiel ist die Bluterkrankheit — Hämophilie A -, bei der der Blutgerinnungsfaktor VIII fehlt. Wenn es gelänge, die entsprechenden Zielzellen (Leber, Knochenmark) mit einem intakten Faktor-VIII-Gen auszustatten, könnten diese Zellen das fehlende Faktor-VIII-Protein synthetisieren und die Krankheit wäre entweder geheilt oder zumindest gemildert. Im Prinzip ist ein solches gentherapeutisches Verfahren für monogene Krankheiten sehr einfach: Ein defektes Gen wird dadurch ausgeglichen, dass in das Genom der Zielzelle ein intaktes, funktionierendes Gen eingesetzt wird, das die Aufgabe des defekten Gens übernimmt. In der Praxis hat die Gentherapie, die schon seit 1990 in über 200 klinischen Versuchen an Hunderten von Patienten ausprobiert worden ist, bisher nur wenige Erfolge gebracht. Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass der Gentransfer in die Zielzellen bei weitem nicht effizient genug erfolgt und dass die eingeschleusten Gene nicht nachhaltig genug ihre Funktion in der neuen Umgebung erfüllen. Zurzeit werden für den Gentransfer gentechnisch veränderte Viren als Vektoren eingesetzt. Damit ein Korrekturgen dauerhaft funktioniert, ist seine Integration in die Chromosomen der Zielzellen notwendig. Dies kann aber wiederum zu neuen Problemen führen, weil durch eine ungerichtete, zufällige Integration natürlich auch andere wichtige Gene zerstört werden können. Bisher gibt es leider noch kein ideales System für die Einschleusung von Genen in menschliche Zellen, obwohl in sehr vielen Laboratorien an dem Problem gearbeitet wird.
 
Aufgrund dieser Schwierigkeit war der Erfolg bei gentherapierten Patienten in klinischen Studien bisher bescheiden. In einem Fall, bei dem an Patienten mit einer sehr seltenen monogenen Erkrankung des Immunsystems der ADA-Defizienz (ADA: Adenosindeaminase) eine Gentherapie durchgeführt wurde, zeigte sich deutliche Verbesserung der Krankheit. Die Krankheit ist zwar nicht völlig verschwunden, aber selbst 5 Jahre nach der letzten Behandlung ist die Verbesserung der Krankheitssymptome noch deutlich vorhanden — ein sehr ermutigendes Ergebnis.
 
Wenn auch bisher in den acht Jahren, in denen Gentherapieversuche durchgeführt worden sind, noch kein spektakulärer Durchbruch erzielt worden ist, so sind die Aussichten für eine erfolgreiche somatische Gentherapie nicht schlecht. Vor allem im Hinblick auf bisher nicht therapierbare Krebserkrankungen werden in die Gentherapie große Hoffnungen gesetzt. Fachleute gehen davon aus, dass in wenigen Jahren die Gentherapie für die Behandlung mancher Erkrankungen Routine sein wird.
 
Keimbahngentherapie
 
Alle bisher durchgeführten klinischen Studien sind an somatischen Zellen oder Geweben unternommen worden. Es wird jedoch diskutiert, dass eine immer währende, über Generationen hinaus wirkende Gentherapie ein attraktives Ziel der klinischen Genetik sein könnte. Eine Korrektur von defekten Genen in Keimzellen oder Zellen, die zu Keimzellen werden, würde nach Ansicht der Befürworter einer Keimbahngentherapie für alle zukünftigen Generationen ein für alle Mal die Krankheit heilen und ein Leben ohne die Last, kranke Gene an die Nachkommen übergeben zu müssen, ermöglichen.
 
Die Argumente sind sicherlich vordergründig betrachtet nicht von der Hand zu weisen und die versprochenen Heilungserfolge sehr attraktiv für eventuell Betroffene. Trotzdem ist Keimbahngentherapie — sicherlich zu Recht — ein höchst kontrovers diskutiertes Thema. In der Bundesrepublik Deutschland ist Keimbahngentherapie sogar per Gesetz (Embryonenschutzgesetz, Gentechnikgesetz) verboten.
 
Welche Gründe sprechen gegen eine Keimbahngentherapie? Vor allen anderen Gründen sind hier die ethischen Bedenken zu nennen, die mit einer — wie auch immer begründeten — gentechnischen Veränderung menschlicher Keimzellen verbunden sind. Für viele Menschen ist die Vorstellung unakzeptabel, dass die erblichen Eigenschaften eines Menschen durch andere Menschen verändert oder bestimmt werden. Die Genethik soll hier nicht im Detail diskutiert werden, sie spielt aber bei der Frage, ob Keimbahngentherapie erlaubt oder nicht erlaubt sein sollte, eine entscheidende Rolle.
 
Neben der ethischen Problematik gibt es aber noch weitere sehr gewichtige Gründe, weshalb Gentherapie an menschlichen Keimzellen zumindest auf absehbare Zeit nicht erlaubt sein sollte. Zuvorderst ist hier der Stand der Technik zu nennen, der einen präzisen genchirurgischen Eingriff in das menschliche Genom nicht erlaubt. Es gibt zurzeit für menschliche Zellen — im Gegensatz zu der Situation bei der Maus — keine verfügbare Methode, Gene zielgerichtet an einer vorher bestimmten Stelle eines Chromosom einzufügen. Die Konsequenz daraus ist, dass ein Gen zufällig an irgendeiner Stelle in ein Chromosom integriert wird und dabei möglicherweise andere Gene zerstört. Die Folgen einer solchen Insertionsmutation sind nicht vorhersehbar und es könnte für den Betroffenen sogar eine viel schlimmere Krankheit als die eigentlich therapierte die Folge sein.
 
Im Gegensatz zu menschlichen Zellen ist bei Mäusen eine Gentherapie, sogar eine Keimbahngentherapie tatsächlich relativ präzise möglich. Bei dem Verfahren werden aus embryonalen Stammzellen chimäre Mäuse erzeugt, ein Vorgang der — selbst wenn embryonale Stammzellen des Menschen zu einem Menschen regeneriert werden könnten — ethisch unvorstellbar ist.
 
Keimbahngentherapie sollte auch deshalb nicht erlaubt werden, weil sie aus genetischer Sicht nahezu völlig unsinnig ist. Keimbahngentherapie kann heute und vermutlich auch in den nächsten Jahrzehnten nur so durchgeführt werden, dass viele Embryonen behandelt werden müssen, von denen nur wenige tatsächlich das gewünschte Gen in ihre Chromosomen integrieren. Von diesen Embryonen wird wiederum nur ein Teil das Gen in einer Weise eingebaut haben, dass von einer Heilung des Gendefekts gesprochen werden kann. Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass aus den vielen gentherapeutisch behandelten Embryonen diejenigen selektiert werden müssen, bei denen die Therapie gelungen ist. Selektion ist daher eine Voraussetzung, die jeder akzeptieren muss, der heute ernsthaft Keimbahngentherapie vorschlägt. Und darin liegt der eigentliche Widersinn: Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen sich zu einem Paar zusammenfinden, für die es aufgrund ihrer defekten Gene völlig ausgeschlossen ist, ein gesundes Kind zu zeugen, ist extrem gering. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn ein bluterkranker Mann eine Frau heiraten würde, die nicht nur Überträgerin, sondern selbst bluterkrank ist, also in beiden X-Chromosomen dasselbe kranke Allel trägt wie ihr Lebenspartner. Die Wahrscheinlichkeit für ein solches zufälliges Zusammentreffen ist etwa eins zu einer Billion, also extrem niedrig, wenn man von Verwandtenehen einmal absieht. Selbst bei Gendefekten, die sehr häufig in der menschlichen Bevölkerung vorhanden sind, beispielsweise eine spezielle, erbliche Form der Zuckerkrankheit, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern zusammentreffen, die prinzipiell keine gesunden Kinder haben können, noch in der Größenordnung von eins zu 100 Millionen. Daraus folgt, dass in einer Bevölkerung wie der Gesamteuropas ein Fall für Gentherapie dieses Gens etwa zwei- bis dreimal in 20 Jahren auftritt.
 
Das bedeutet andererseits, dass mehr als 99 Prozent der an genetischen Erkrankungen leidenden Elternpaare mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 bis 50 Prozent völlig gesunde oder aber nicht erkrankende, krankheitsübertragende Kinder haben. Wenn man aber, wie es bei gentherapeutischen Verfahren ohnehin zwingend notwendig wäre, die Selektion erbgesunder Embryonen akzeptieren will, dann ist dies eben auch ohne Gentherapie in diesen Fällen möglich. Ob es trotzdem zu rechtfertigen wäre, für eine sehr kleine Zahl von Patienten/Eltern die enormen ethischen und gesundheitlichen Risiken einer Keimbahngentherapie zu wagen, muss gesellschaftlich diskutiert und entschieden werden.
 
 Genomanalysen und Humangenomprojekt
 
Das Genom ist definiert als die DNA aller Chromosomen eines Organismus. Das Genom enthält somit alle Gene und alle sonstige DNA. Genome unterschiedlicher Organismen sind unterschiedlich groß. Komplexe Organismen haben größere Genome als primitivere. Die Genomgröße wird meist in Basenpaaren angegeben.
 
Die Genomgrößen schwanken zwischen wenigen Tausend Basenpaaren bei einfachen Viren über etwa 3 Milliarden beim Menschen bis hin zu 100 Milliarden Basenpaaren bei manchen Pflanzen und einigen Amphibien.
 
Ein Genomprojekt hat im Allgemeinen die vollständige Bestimmung der Basensequenz der DNA des Genoms zum Ziel.
 
Vor 30 Jahren war es für Fachleute unvorstellbar, dass selbst die kleinsten Virusgenome noch in diesem Jahrhundert vollständig sequenziert werden könnten: So schreibt ein Wissenschaftler im Jahre 1968 in der Fachzeitschrift »Progress in Nucleic Acid Research and Molecular Biology«: »Selbst die kleinsten funktionellen Genome, die man kennt, wie sie in kleinen Bakteriophagen (Viren) vorkommen, müssen etwa 5000 Nukleotide in einer Reihe haben. Wir können deshalb die Aufgabe, die vollständige Nukleotidsequenz einer DNA zu entziffern, für das 21. Jahrhundert lassen, welches (uns) jedoch andere Sorgen bereiten wird.« Nur neun Jahre später (1977) erschien in der Zeitschrift »Nature« die vollständige Nukleotidsequenz (etwa 5500 Nukleotide) des Bakteriophagen ΦX174. Weitere fünf Jahre später war das vollständige Genom des Bakteriophagen Lambda mit 48 502 Basenpaaren entschlüsselt. Das erste Genom eines frei lebenden, zellulären Mikroorganismus, des Bakteriums Haemophilus influenzae, wurde im Jahre 1995 fertig gestellt, wobei das Genom eine Größe von 1 830 135 Basenpaaren hat. 1997 wurde das Genom der Bäckerhefe vollständig entschlüsselt. An diesem Projekt hat ein internationales Konsortium mit insgesamt über 80 verschiedenen Laboratorien aus Europa, USA und Japan mehrere Jahre gearbeitet. Das Genom der Bäckerhefe ist 12 500 000 Basenpaare groß und enthält etwa 6500 Gene, von denen vor der vollständigen Sequenzierung nur weniger als die Hälfte bekannt waren. Ende 1998 wurden alle Gene des Fadenwurms Caenorhabditis elegans entschlüsselt. Das Genom besitzt rund 19 000 Gene und eine Größe von etwa 100 000 000 Basenpaaren. Die Sequenzierung weiterer Modellorganismen ist in vollem Gange. So gibt es zurzeit eine Reihe weiterer Genomprojekte, wie die Sequenzierung des Genoms der Pflanze Arabidopsis thaliana. Dieses Ackerunkraut ist aufgrund seiner geringen Genomgröße und seiner günstigen genetischen Eigenschaften besonders gut für ein Genomprojekt geeignet.
 
Aus dem Kulturpflanzenbereich werden die Genome von Reis, Gerste und Mais besonders intensiv erforscht. Aus der Tierwelt steht das Genom der Taufliege im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Darüber hinaus wird die Sequenzierung der Genome des Zebrafischs und der Maus intensiv vorangetrieben.
 
Humangenomprojekt
 
Das wichtigste Genomprojekt ist ohne Zweifel die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Das Ziel des international koordinierten Humangenomprojekts ist es, alle Gene und sonstigen DNA-Abschnitte des Menschen zu sequenzieren und möglichst ihre Funktion zu bestimmen. Wenn dieses Ziel in nicht allzu ferner Zukunft erreicht ist, wird auf lange Sicht vermutlich eine bisher nur in Ansätzen vorstellbare neue Medizin die Folge sein. Das Humangenomprojekt ist ein gigantisches wissenschaftliches Unterfangen, das bisher mit keinem anderen Forschungsprojekt vergleichbar ist. Seit etwa 10 Jahren arbeiten weltweit Hunderte von Forschungslaboratorien, international koordiniert und bis heute bereits mit mehreren Milliarden Dollar unterstützt, an diesem Projekt. Neben dieser internationalen und mit öffentlichen Forschungsgeldern geförderten Anstrengung gibt es eine private, kommerziell ausgerichtete Initiative zur Sequenzierung des menschlichen Genoms. Die neu gegründete amerikanische Firma Celera hat angekündigt, innerhalb von drei Jahren — drei bis vier Jahre früher als bei dem öffentlich geförderten Humangenomprojekt geplant — mehr als 90 Prozent des Humangenoms und nahezu alle Gene sequenzieren zu wollen. Beide Initiativen stehen seitdem in direkter Konkurrenz zueinander. Obwohl beide Projekte die vollständige oder nahezu vollständige Sequenzierung eines menschlichen Genoms zum Ziel haben, unterscheiden sich die Initiativen in der angestrebten Genauigkeit der Daten, der Sequenzierungsstrategie, den Kosten sowie der Verwendung der erarbeiteten Daten.
 
Welche Leistungen sind im Humangenomprojekt zu vollbringen? Das menschliche Genom hat nach den heutigen Schätzungen einen Umfang von drei Milliarden Basenpaaren. Die Anzahl der Gene wird auf 50 000 bis 100 000 geschätzt. Die Gene beziehungsweise die drei Milliarden Basenpaare verteilen sich auf 23 Chromosomen, wobei das für Männer spezifische Y-Chromosom noch hinzukommt. Am Ende des Jahres 1998 waren weniger als zehn Prozent des menschlichen Genoms sequenziert oder als Daten aus öffentlichen Datenbanken abrufbar. Das bedeutet, dass noch mehr als 90 Prozent des Genoms des Menschen in den nächsten Jahren sequenziert werden müssen.
 
Parallel zu der Sequenzierung des Humangenoms werden die cDNAs sequenziert. Die cDNA ist die zur RNA komplementäre DNA (cDNA: complementary DNA). Alle RNAs und cDNAs sind Produkte von Genen und somit erhält man mit der Sequenzierung der cDNA die konzentrierte Information über die Gene. Deshalb sind cDNA-Projekte eine sehr kostengünstige Möglichkeit, an die Basensequenz möglichst vieler Gene heranzukommen. Allerdings haben cDNA-Projekte auch Nachteile: Die RNA und damit auch die cDNA eines Gens ist nur dann in einer Zelle oder einem Gewebe zu finden, wenn dieses Gen auch wirklich aktiv ist. Da aber bei komplexen, vielzelligen Organismen bei weitem nicht alle Gene zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Gewebe transkribiert werden, wird man in der cDNA immer nur eine Teilauswahl der tatsächlich vorhandenen Gene vorfinden. Hinzu kommt, dass viele Gene auch zeitlich in ihrer Aktivität reguliert werden. Um einen wirklich vollständigen Gensatz über eine cDNA-Analyse zu erhalten, müssten die RNAs aus allen Zellen/Geweben eines Menschen zu jedem Zeitpunkt seines Lebens von der Befruchtung bis zum Tod und unter Berücksichtigung aller Sonderumstände wie Krankheit, Verletzung, Stress, verschiedene Gemütszustände, bei Vergiftung oder unter Hunger, in Aktivität und Ruhe und so weiter isoliert werden. Dies ist offensichtlich unmöglich. Hinzu kommt, dass cDNAs die wichtigen regulatorischen Genabschnitte im Allgemeinen nicht enthalten. Gerade diese Abschnitte sind aber sehr wichtig, um die Funktion und Steuerung der Gene zu verstehen.
 
Beide Strategien, sowohl die genomische Sequenzierung als auch die cDNA-Sequenzierung, müssen parallel verfolgt werden, um die optimale Information über das menschliche Genom zu erhalten. Die genomische Sequenzierung liefert grundsätzlich die gesamte Information über alle Gene und die sonstige DNA des Menschen, die cDNA-Sequenzierung gibt Auskunft über die aktiven Gene und erleichtert die Identifizierung der proteincodierenden Abschnitte.
 
Bioinformatik und Datenauswertung
 
Im Rahmen der Genomprojekte, insbesondere aber im Zusammenhang mit dem Humangenomprojekt werden unvorstellbar große und für die Biomedizin sehr wertvolle Datensammlungen zusammengetragen. Diese Datenmengen, die zum großen Teil in öffentlichen Datenbanken über Internet frei verfügbar gelagert werden, erfordern die Entwicklung und den Einsatz von komplizierten Computerprogrammen. Damit beschäftigt sich der neue Wissenschaftszweig der Bioinformatik. Die biologischen Daten aus den Genomprojekten lassen sich nur mit sehr leistungsfähigen Computerprogrammen auswerten. Zurzeit scheint die Datenerzeugung erheblich schneller vonstatten zu gehen als die notwendige, sorgfältige Datenauswertung. Noch gibt es viel zu wenig Wissenschaftler, die in dem Grenzgebiet zwischen der Molekularbiologie und der Informatik ausgebildet sind. Die größte Schwierigkeit beim Humangenomprojekt wird wahrscheinlich nicht die Erhebung der Daten, sondern die Datenauswertung sein. Die bis heute verfügbaren Computerprogramme sind bisher nicht in der Lage, die Struktur von Genen und schon erst recht nicht ihre Funktion auf Grundlage der bekannten Basensequenz zuverlässig vorherzusagen.
 
Ist die Bestimmung der Gene aller Menschen möglich?
 
Mit dem Abschluss des Humangenomprojekts zwischen den Jahren 2002 und 2005 werden (fast) alle Gene eines Menschen bekannt sein. Dies wird ganz ohne Zweifel ein Meilenstein in der Wissenschaft sein, aber es wird uns wenig über die Vielfalt der Menschen sagen. Auch die genetischen Ursachen von Eigenschaften oder Krankheiten, die nicht von einem, sondern durch viele Gene (polygen) bestimmt werden, sind damit alleine nicht zu verstehen. Dazu braucht man die Genvarianten vieler, ja möglichst aller Menschen. Während Letzteres auf absehbare Zeit unmöglich ist, erscheint es inzwischen keineswegs mehr als utopisch, die Genome oder zumindest die Gene sehr vieler Menschen zu analysieren. Die Entwicklung von DNA-Chips mit der Möglichkeit die Sequenz Tausender Gene bei Tausenden von Menschen in wenigen Tagen zu bestimmen, lässt darauf hoffen, dass in nicht allzu ferner Zukunft die genetischen Grundlagen für komplexe Eigenschaften des Menschen identifiziert werden können. Dabei werden wir möglicherweise nicht nur sehr viel über uns selbst lernen, sondern auch die Möglichkeit haben, sehr viel zielgerichteter gesundheitliche Probleme zu behandeln.
 
Prof. Dr. Erwin Schmidt
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Gentechnik: Anwendung in Wissenschaft und Forschung
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Gentechnik: Anwendung in Landwirtschaft und Ernährung
 
 
Biotechnologie - Gentechnik. Eine Chance für neue Industrien, herausgegeben von Thomas von Schell und Hans Mohr. Berlin u. a. 1995.
 Brown, Terence A.: Genomes. Oxford 1999.
 Brown, Terence A.: Gentechnologie für Einsteiger. Aus dem Englischen. Heidelberg 21996. Nachdruck Heidelberg 1999.
 Ibelgaufts, Horst: Gentechnologie von A bis Z. Studienausgabe Weinheim u. a. 1990. Nachdruck Weinheim u. a. 1993.
 Strachan, Tom / Read, Andrew P.: Molekulare Humangenetik. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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